20. August 2021
Ausgangssituation
Gemäß § 233a AO sind Steuernachforderungen und Steuererstattungen im Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung zu verzinsen (sog. Vollverzinsung). Die Vollverzinsung findet nur bei der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen- Umsatz- oder Gewerbesteuer statt.
Hintergrund für die Einführung der Vollverzinsung im Jahr 1990 war, dass der Entstehungszeitpunkt für Steuern gesetzlich festgelegt und damit für alle Steuerpflichtigen gleich ist. Der Zeitpunkt der Steuerfestsetzung variiert aber im Einzelfall. Insbesondere im Fall einer Außenprüfung kann zwischen dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuer und der Festsetzung der Abschlusszahlung aufgrund der Feststellungen der Außenprüfung ein Zeitraum von bis zu mehreren Jahren liegen. Das führt zu einem fiktiven Zinsvorteil desjenigen, dessen Steuer später festgesetzt wird. Die Vollverzinsung soll hier einen Ausgleich schaffen.
Der Zinssatz beträgt nach § 238 Abs. 1 AO für jeden vollen Monat des Zinslaufs 0,5%, also 6% jährlich. Die Verzinsung beginnt grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sog. Karenzzeit. Dementsprechend sind von der Vollverzinsung von Vornherein lediglich die Steuerpflichtigen betroffen, deren Steuern erst nach Ablauf eines langen Zeitraums nach Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird. Hierbei handelt es sich in der Praxis überwiegend um Steuerpflichtige, die von einer Außenprüfung betroffen sind.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hatte am 08.07.2021 über zwei Verfassungsbeschwerden zu entscheiden, die die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO auf Gewerbesteuer nach einer erfolgten Außenprüfung zum Gegenstand hatten.
Die Karlsruher Richter haben entschieden, dass die Regelung in § 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 AO insofern verfassungswidrig sei, als der Zinsberechnung ein Zinssatz von 0,5 % monatlich zugrunde gelegt werde. Das Bundesverfassungsgericht sieht also lediglich die Höhe des Zinssatzes als verfassungswidrig an. Die Vollverzinsung an sich sei grundsätzlich verfassungskonform, auch wenn sie eine Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen darstelle, die nach Ablauf der Karenzzeit in Anspruch genommen werden gegenüber den Steuerpflichtigen, deren Steuern noch vor Ablauf der Karenzzeit festgesetzt werden. Es handele sich um eine Ungleichbehandlung im Sinne von Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes, die aber dem Grunde nach verfassungsrechtlich gerechtfertigt sei. Grund für die Verfassungskonformität sei der Ausgleich des durch die unterschiedliche Festsetzung entstehenden fiktiven Zinsvorteils.
Die Vollverzinsung sei aber der Höhe nach spätestens seit dem Jahr 2014 verfassungswidrig, da ein Zinssatz von 6 % jährlich seitdem nicht mehr zum Ausgleich des fiktiven Zinsvorteils erforderlich sei. Welcher Zinssatz konkret erforderlich sei, orientiere sich unter anderem am an den Maßstäben des Geld- und Kapitalmarkts. Das dortige Zinsniveau habe sich seit der Einführung der Vollverzinsung im Jahr 1990 deutlich verändert.
Nach Ansicht der Karlsruher Richter sei zunächst noch ein Zinssatz von jährlich 6 % verfassungskonform gewesen. Seit der Finanzkrise 2008 habe sich allerdings ein Niedrigzinsniveau entwickelt, welches sich spätestens seit dem Jahr 2014 als neuer Standard verfestigt habe. Dies äußere sich nicht zuletzt auch in der Entwicklung des Basiszinssatzes, der im Jahr 2008 noch bei über 3 % gelegen habe, seit Januar 2013 allerdings konstant im negativen Bereich liege.
Der 6 % -Zinssatz sei aktuell daher so weit von dem tatsächlichen Marktzinsniveau entfernt, dass er „evident realitätsfern“ sei.
Aussicht
Das bisherige Recht ist weiter für bis einschließlich in das Jahr 2018 fallende Verzinsungszeiträume anwendbar. Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume ist die Vorschrift unanwendbar. Der Gesetzgeber ist allerdings verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Hoheitsakte erfasst.