Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 04.07.2019 in der Rechtssache C-377/17 die Mindest- und Höchstsätze der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) wegen Verstoßes gegen Art. 15 der Richtlinie 2006/123 EG (Dienstleistungsrichtlinie) für europarechtswidrig erklärt (vgl. dazu unseren Beitrag vom 04.07.2019). Zwischenzeitlich haben sich die ersten Oberlandesgerichte sowie die Vergabekammer des Bundes (VK Bund) mit der Frage beschäftigt, welche Folgen der vom EuGH festgestellte Verstoß gegen die europäische Dienstleistungsrichtlinie auf nationaler Ebene hat. Hier folgender kurzer Überblick.
Unmittelbare Geltung der EuGH-Entscheidung oder Warten auf den Gesetzgeber?
Eine entscheidende Frage ist, ob das Preisrahmenrecht der HOAI ab sofort nicht mehr angewendet werden darf oder ob der Gesetzgeber erst durch entsprechende Maßnahmen, wie insbesondere eine Gesetzesänderung, auf die europäische Rechtsprechung reagieren muss. In dieser Frage ist sich die obergerichtliche Rechtsprechung bislang nicht einig.
Was sagen die ersten Entscheidungen der Obergerichte zu den Auswirkungen zwischen privaten Auftraggebern und Auftragnehmern?
Das Oberlandesgericht (OLG) Celle hat entschieden (Urteil vom 17.07.2019 – 14 U 188/18), dass sich eine Partei auch in laufenden Architektenhonorarprozessen nicht mehr auf eine Unter- bzw. Überschreitung der Mindest- bzw. Höchstsätze gemäß § 7 HOAI berufen könne. Die Entscheidung des EuGH sei von deutschen Gerichten unmittelbar zu beachten.
Das OLG Hamm hat hingegen entschieden (Urteil vom 23.07.2019 – 21 U 24/18), dass sich eine Partei in laufenden Architektenhonorarprozessen trotz des EuGH-Urteils noch auf eine Unter- bzw. Überschreitung der Mindest- bzw. Höchstsätze berufen könne. Die Entscheidung des EuGH binde nur den Mitgliedstaat selbst und dieser müsse geeignete Maßnahmen in Form von Gesetzänderungen ergreifen, um den europarechtswidrigen Zustand zu beseitigen.
Das Kammergericht Berlin hat sich der Meinung des OLG Hamm angeschlossen (Beschluss vom 19.08.2019 – 21 U 20/19). Nach dem Urteil des EuGH sei in einem Rechtsstreit zwischen einem Architekten und seinem Auftraggeber das Mindestpreisgebot weiter anzuwenden. Dies gelte allerdings nur im Verhältnis zwischen Privaten, weil die entsprechende EU-Richtline (gegen welche das nationale Preisrecht der HOAI verstößt) keine Direktwirkung zwischen Privaten entfalten könne und nicht unmittelbar anwendbar sei. Demnach könnten sich lediglich öffentliche Auftraggeber – laut Kammergericht Berlin – nicht mehr auf das Preisrecht berufen.
Das OLG Düsseldorf widerspricht den beiden vorgenannten Entscheidungen und teilt in der jüngst veröffentlichten Entscheidung (Urteil vom 17.09.2019 – 23 U 155/18) die Ansicht des OLG Celle. Zur Begründung führt das OLG Düsseldorf ebenfalls an, dass aus der Feststellung der Europarechtswidrigkeit für den verurteilten Mitgliedstaat die Pflicht folge, den Verstoß unmittelbar zu beenden. Diese Pflicht treffe nicht nur den Gesetzgeber, sondern sämtliche Stellen des verurteilten Staates, mithin auch die Gerichte. Für unionrechtswidrig erklärte Normen dürften daher nicht mehr angewendet werden. Darüber hinaus entfallte der vorliegend betroffene Art. 15 der europäischen Dienstleistungsrichtlinie unmittelbare Wirkung, so dass sich der Einzelne vor Behörden und Gerichten auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen könne.
Demnach steht es also aktuell 2:2 unentschieden zwischen den Oberlandesgerichten.
Was sagt die VK Bund in ihrem Beschluss vom 30.08.2019 (VK 2-60/19) zu den Auswirkungen zwischen öffentlichen Auftraggebern und Bietern in Vergabeverfahren?
Die VK Bund hat mit Beschluss vom 30.08.2019 (Az. VK 2-60/19) entschieden, dass sich aus der Entscheidung des EuGH für einen öffentlichen Auftraggeber unmittelbar das Verbot ergebe, die europarechtswidrigen Vorschriften der HOAI bei der Vergabe von Architekten- und Ingenieurleistungen als Zuschlagskriterium anzuwenden. Zur Begründung führt die VK Bund an, dass die unmittelbare Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie zwischen Bürgern bzw. Bietern und staatlichen Stellen zulässig und daher auch in Vergabeverfahren geboten sei. Nach Auffassung der VK Bund liegen die Voraussetzungen im Sinne von Art. 288 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) für eine unmittelbare Anwendung der maßgebenden Vorschriften der Dienstleistungsrichtlinie vor, weil Bieter aus diesen unmittelbar und ohne einen Umsetzungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber Rechte ableiten können (self executing), die Umsetzungsfrist abgelaufen ist und die unmittelbare Anwendung nicht selbst zu einer Verpflichtung eines Bürgers gegen den Staat oder einem anderen Einzelnen führt.
Die unmittelbaren Rechte der Bieter ergäben sich vorliegend aus der Vorschrift des Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g, Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie. Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass nationale Vorschriften, nach denen ein Dienstleistungserbringer festgesetzte Mindest- und/oder Höchstpreise zu beachten hat, zu ändern sind, wenn sie nicht den Maßgaben des Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie entsprechen, insbesondere also unverhältnismäßig sind. Ein Umsetzungsspielraum verbleibe deutschen Gesetz- und Verordnungsgeber nicht; vielmehr waren danach die verbindlichen Honorarregeln der HOAI in der bislang geltenden Fassung abzuschaffen. Die Umsetzungsfrist der Dienstleistungsrichtlinie ist bereits zum 28. Dezember 2009 abgelaufen. Auch begründe Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 lit. g), Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie keine unmittelbaren Pflichten für einen Bieter im streitgegenständlichen Vergabeverfahren gegenüber dem Staat bzw. öffentlichen Auftraggeber oder einem einzelnen anderen Bieter. Vielmehr ermögliche der Wegfall der nach § 127 Abs. 2 GWB, § 76 Abs. 1 Satz 1 VgV ursprünglich anzuwendenden HOAI-Regelungen für verbindliche Mindest- bzw. Höchstsatze für die Honorare eine umfassend freie Kalkulation, was die Honorarkalkulation der Bieter im streitgegenständlichen Vergabeverfahren vollumfänglich dem Wettbewerb öffnet und flexibler macht und somit zu Gunsten der Bieter wirkt. Dementsprechend seien die verbindlichen Honorarregelungen der HOAI auch in Vergabeverfahren nicht mehr anzuwenden.
Fazit
Unter Berücksichtigung der vorzitierten Entscheidung der VK Bund steht es also aktuell 3:2 für die Auffassung, dass das EuGH Urteil vom 04.07.2019 unmittelbare Wirkung entfaltet und demzufolge die Mindest- und Höchstsätze der HOAI keine Geltung mehr entfalten.
Vor diesem Hintergrund lässt sich demnach konstatieren, dass ein Berufen auf die Mindest- und Höchstsätze der HOAI in bereits anhängigen oder zukünftigen Rechtsstreiten – sowohl für private, als auch für öffentliche Beteiligte – mit einem sehr hohen Risiko verbunden ist. Denn die Tendenz in der Rechtsprechung und durchaus gewichtige Argumente sprechen für ein unmittelbares Anwendungsverbot des Preisrahmenrechts der HOAI in Form der Mindest- und Höchstätze.
In Vergabeverfahren können Angebote über Planungsleistungen bereits nicht mehr deshalb zurückgewiesen werden, weil das Honorar sich nicht im Rahmen der Mindest- und Höchstsätze hält (vgl. Schreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 04.07.2019). Öffentliche Auftraggeber sind also ab sofort gut beraten, bei Ihren (zukünftigen) Ausschreibungen keine kalkulatorischen Vorgaben innerhalb des verbindlichen Preisrechts der HOAI zu setzen. Sofern öffentliche Auftraggeber in aktuell noch laufenden Vergabeverfahren den Bietern gegenüber etwaige Vorgaben nach HOAI gemacht haben, ist diesen mit Blick auf die Entscheidung der VK Bund zu raten, von diesen Vorgaben im laufenden Verfahren Abstand zu nehmen bzw. die Verfahren unter Maßgabe der Rechtsauffassung der VK Bund in einen Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen.
Ungeachtet dessen, dass der Bundesgesetzgeber nunmehr dringend gefordert ist durch entsprechende Anpassung Rechtsklarheit zu schaffen, wird (zuvor) voraussichtlich der Bundesgerichtshof über die Frage eines unmittelbaren Anwendungsverbots entscheiden.