Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen: Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen bleibt!

Heute, am 20. Dezember 2019, hat der Verfassungsgerichtshof NRW in dem von Teilen der Opposition angestrengten Normenkontrollverfahren VerfGH 35/19 sein Urteil verkündet.

Die Antragsteller wandten sich

  1. gegen die Abschaffung der Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen in § 46c Kommunalwahlgesetz NRW (KommWahlG NRW)

und

  1. gegen die Änderung von § 4 Abs. 2 KommWahlG über die zulässige Abweichung der Einwohnerzahl in einzelnen Wahlbezirken vom Durchschnitt der Bezirke.

Erfolg mit dem ersten Antrag

Der erste Antrag hatte Erfolg. Der VerfGH verwarf die Abschaffung der Stichwahl bei der Bestimmung der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten als verfassungswidrig: Sie gefährde das Ziel der Bürgermeister- und Landratswahlen, demokratische Legitimation zu vermitteln. Denn der Gesetzgeber habe es unterlassen, die Auswirkungen der zunehmenden Zersplitterung der Parteienlandschaft hinreichend zu prognostizieren. Diese Fragmentierung könne dazu führen, dass viele Kandidaten ins Amt gelangen, obwohl sie sich nur auf eine weit von der absoluten Mehrheit der Wählerstimmen entfernte relative Mehrheit stützen können. Damit stelle die Änderung von § 46c KommWahlG NRW einen Verstoß gegen die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates nach Artt. 1 Abs. 1; 2 Landesverfassung NRW in Verbindung mit Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG dar.

Gegen Ergebnis und Gründe des Urteils zum ersten Antrag wandten sich drei der sieben Richter in einem Minderheitenvotum. Im Kern kritisierte die unterliegende Minderheit, das Urteil bewerte die Zustimmung zu einem Kandidaten zu hoch und die – bei Stichwahlen meist sinkende – Wahlbeteiligung zu gering. Zudem stelle das Urteil überzogene Anforderungen an die Genauigkeit, mit der der Gesetzgeber die Folgen seiner Entscheidungen zu prognostizieren habe.

Abweichung vom Vorgängerurteil im Ergebnis, nicht in den Maßstäben

Mit diesem Urteil geht der VerfGH NRW einen Schritt weiter auf dem Weg, welchen die Verfassungsgerichte schon seit längerem beschreiten, nämlich den Gesetzgeber in Fragen des Wahlrechts an der kurzen verfassungsrechtlichen Leine zu halten. Zugleich weicht der Gerichtshof im Ergebnis, allerdings nicht in den gewählten Beurteilungsmaßstäben, von seinem Urteil VerfGH 2/09 vom 26. Mai 2009 ab: 2007 hatte der Landtag bereits schon einmal durch Änderung von § 46c KommWahlG NRW die Stichwahl für die Bestimmung der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten abgeschafft (was später wieder rückgängig gemacht wurde). In dem seinerzeit angestrengten Normenkontrollverfahren entschied das Gericht zwar – anders als in seinem jetzigen Urteil – nicht auf einen Verstoß gegen das Demokratiegebot. Es schrieb dem Gesetzgeber aber im letzten Absatz der Entscheidung ins Stammbuch, er sei „gehalten, die Wahlverhältnisse daraufhin im Blick zu behalten, ob das bestehende Wahlsystem den erforderlichen Gehalt an demokratischer Legitimation auch zukünftig zu vermitteln vermag.“ Änderten sich die Verhältnisse, so könne sich auch der Verzicht auf eine Stichwahl verfassungsrechtlich anders beurteilen.

Schwache relative Mehrheit legitimiert nicht ausreichend

Mit dieser verfassungsrechtlichen Bindung des Wahlgesetzgebers an die tatsächlichen Verhältnisse, die sich stets im Fluss befinden, machten die Richter in Münster nun ernst: Die Fragmentierung des Parteiensystems in Nordrhein-Westfalen, die sich in dem Aufkommen neuer Parteien und Wählergruppierungen zeige, hätte der Gesetzgeber genauer beurteilen müssen, um die Gefahr nach verfassungsrechtlichen Maßstäben hinreichend sicher prognostisch auszuschließen, dass – demokratiewidrig – die kommunalen Spitzenbeamten sich in vielen Fällen nur noch auf die Zustimmung einer Minderheit von deutlich weniger als 50% der Wählerstimmen stützen können. Die Gesetzesänderung scheiterte vor dem VerfGH also im Kern daran, dass der Gesetzgeber die Folgen seines Handelns nicht hinreichend bedacht habe.

Dem Urteil ist insoweit beizupflichten, als es tendentiell undemokratisch ist, wenn ein gewählter Amtsinhaber die Mehrheit der Stimmen gegen sich hat. Zwar kann dies etwa bei der Wahl der Kreiskandidaten zum Bundestag auch geschehen. Für diese Wahl ist jedoch der Parteienproporz im Bundestag die politisch entscheidende Größe, der sich bekanntlich nach der Zweitstimme richtet. Dieser Proporz wird durch die Regelungen zu den Ausgleichsstimmen abgesichert, so dass die Wahl von Direktkandidaten mit lediglich relativer Mehrheit keine Gefährdung darstellt. Naturgemäß schwierig und mit Zweifeln befrachtet bleibt aber das verfassungsrechtlich geboten Maß an Sorgfalt, mit dem der wahlrechtliche Gesetzgeber seine Prognose zu treffen hat. Das Urteil hat in diesem Punkt die Messlatte hoch gehängt.

Das von der Landtagsmehrheit, der Landesregierung ins Spiel gebrachte und von der unterliegenden Richterminderheit betonte Argument einer drohenden geringen Wahlbeteiligung, der mit der Gesetzesänderung begegnet werden sollte, ist zwar für sich genommen stichhaltig. Es trifft jedoch auf die Stichwahlen nicht uneingeschränkt zu , da es sich bei diesen um die zweite Stufe einer Wahl handelt, über deren Stattfinden und über deren Kandidaten bereits auf der ersten Stufe entschieden wurde. Das heißt, die Beteiligung am ersten Wahlgang vermittelt auch der folgenden Stichwahl demokratische Legitimation.

Zweiter Antrag: Verfassungskonforme Auslegung gefordert

Dem zweiten Antrag gab das Gericht hingegen nicht statt. Die bisherige Regelung in § 4 Abs. 2 KommWahlG NRW sah unter anderem vor, dass die Einwohnerzahl in einem Wahlbezirk nicht mehr als 25% von der durchschnittlichen Einwohnerzahl der Wahlbezirke im Wahlgebiet nach oben oder unten abweichen darf. Die Vorschrift wurde dann durch die Vorgabe ergänzt, dass bei der Ermittlung der Einwohnerzahl in den Bezirken alle Personen unberücksichtigt bleiben, die nicht Deutsche im Sinne von Artikel 116 Abs. 1 Grundgesetz (GG) oder Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union sind.

Das Gericht sah keine Verletzung des Demokratieprinzips oder der Gleichheit der Parteien darin, bei der Berechnung der maximal zulässigen Abweichung nur die Personen zu berücksichtigen, die bei Kommunalwahlen auch wahlberechtigt sind. Jedoch untersagte das Gericht im Wege einer verfassungskonformen Auslegung, die 25% Grenze pauschal anzuwenden, sondern verlangte für Abweichungen der Wahlbezirke von mehr als 15%, dass besondere, verfassungsrechtlich gewichtige Gründe dafür sprechen müssen, wie das in § 4 Abs. 2 S. 1 KommWahlG NRW genannte Ziel, den räumlichen Zusammenhang der Wahlbezirke zu wahren.

Die Pflichten des wahlrechtlichen Gesetzgebers

Mit dem zweiten Stichwahlurteil des VerfGH NRW scheitert wieder einmal, man denke etwa an die wahlrechtlichen Sperrklauseln, die der Bundesgesetzgeber für die Europawahlen und der nordrhein-westfälische verfassungsändernde Gesetzgeber für die Kommunalwahlen einführen wollten, ein Gesetzgeber an der Neuregelung wahlrechtlicher Vorschriften. Für dieses Rechtsgebiet gilt aus gutem Grunde ein strenger verfassungsrechtlicher Maßstab, denn hier werden die Chancen auf politische Macht verteilt. Der Clou dieses Maßstabs liegt darin, dass vom Gesetzgeber genau prognostiziert und fortlaufend beobachtet werden muss, wie sich das Wahlrecht auf Demokratie und Wahlgrundsätze auswirkt. Dies kann, wie in den beiden Urteilen vom Mai 2009 und vom Dezember 2019 zum Ausdruck kommt, im Verlauf der Zeit zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Daraus lässt sich eine Pflicht des Gesetzgebers ableiten, Vorschriften anzupassen, die ursprünglich verfassungsgemäß waren, dies dann aber nicht mehr sind. Die wahlrechtlichen Gesetzgeber in Bund und Ländern sollten diese Prognose-, Beobachtungs- und Anpassungspflichten im Auge behalten.

Autor

Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Öffentliches Wirtschaftsrecht